„Ich habe 60 Bewerbungen geschrieben. Und niemand hat mich zum Interview eingeladen. Was mache ich falsch?“
Meine Freundin - Mitte 30, berufserfahren, gut ausgebildet - ist verzweifelt und fragt mich um Rat. Ich habe in meinem Berufsleben schon einige Bewerbungen gelesen, und einige Mitarbeiter*innen eingestellt (und ja, ich habe auch selbst einige Bewerbungen geschrieben.)
Wir schauen über ihre Unterlagen: sie sind solide.
Ich denke an die israelische Studie von Ruffle / Shtudiner, für die zahlreiche Bewerbungen verschickt wurden: mit Foto (sehr attraktiv und durchschnittlich attraktiv), und ohne Foto, jeweils von Frauen und von Männern. Das Ergebnis war: Attraktive Männer haben deutlich häufiger eine Einladung bekommen, als Männer ohne Foto, oder Männer mit durchschnittlichem Aussehen. Bei Frauen war es anders: Attraktive Frauen haben am seltensten eine Einladung bekommen.
Ich frage mich und sie: „Ist das Foto zu schön?“
Sie sagt: „Ich glaube, es liegt an meinem Namen.“
Ich stutze – das kam mir gar nicht in den Sinn! Als weiße, privilegierte, deutschstämmige Frau ohne eigene Rassismus-Erfahrungen muss sie mich darauf erst stoßen. Dann fallen sie mir wieder ein, die zahlreichen Studien, die das belegen: Michael bekommt den Job, Murat nicht.
Ihre Eltern sind nicht in Deutschland geboren.
Und mir fällt das Stichwort "anonyme Bewerbung" ein.
Ich antworte: „Schreib halt mal einen anderen Namen hin!“
Sie probiert es und schickt zwei Bewerbungen - eine unter ihrem echten Namen, eine zweite als E. Müller.
Frau Müller bekommt eine Einladung, sie nicht.
Das lässt mich nicht los. Ich beginne zu googeln, erinnere mich dunkel an einen Pilotversuch der Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung. Man wollte herausfinden, ob die anonyme Bewerbung dazu führt, dass fairer ausgewählt und mehr Menschen mit Migrationshintergrund eingestellt werden. Große namhafte deutsche Unternehmen machten mit (auch das, in dem ich damals gearbeitet habe).
Es war erfolgreich: Mehr diverse Kandidat*innen wurden gefunden und eingestellt. Auch die Unternehmen lobten die Ergebnisse. Die Anonymisierung verhindert Verzerrungen und stereotype Vorurteile und führt zu mehr Diversität und einer besseren Entscheidung.
Die Antidiskriminierungsstelle sagt: genauso sollte man es machen.
Das war 2012. Das ist lange her - und niemand macht es.
Warum ist in Deutschland das Bewerbungsfoto immer noch Standard in Bewerbungsverfahren?
Genauso wenig wirksam wie die Selbstverpflichtung für mehr Frauen im Management war der Vorschlag der Bundesregierung an die deutschen Unternehmen, mehr Fairness ins Recruiting zu bringen.
Inzwischen gibt es einmal im Jahr werbewirksam Regenbogen-Logos zu sehen, auf den Karriere-Seiten der Arbeitgeber*innen lachen uns vielfältige Menschen aller Geschlechter entgegen, es gibt nun das Jobprofil „Head of Diversity & Inclusion“. Vieles davon ordnet sich leider unter #Rainbow-Washing ein. Wo sind die echten kulturellen Veränderungen, wo sind die großen Budgets oder Abteilungen, die sich um Inklusive wirklich kümmern?
Wo sind anonyme Bewerbungen in DACH?
5 Gründe, warum es immer noch keine faire, anonyme Bewerbung, und somit keine Chancengleichheit gibt:
- Mindset der deutschen Führungskräfte – dies ist die gehäufte Antwort meiner Umfrage, die ich durchgeführt habe – sicher nicht repräsentativ, aber spannend. Überdurchschnittlich oft wird angegeben, dass - besonders männlichen - Führungskräften sowohl Problembewusstsein als auch Offenheit fehlt, eigene Stereotype und Verzerrungen zu erkennen und zu hinterfragen.
- Fehlender Mut und fehlende Macht – Um Veränderungen anzustoßen, braucht es Mut. Um Veränderungen durchzusetzen, braucht es Macht. Und die Stellen mit der Macht sind in Deutschland noch allzu oft die Menschen aus meinem ersten Punkt. HR-Abteilungen fehlt faktisch oft die Macht (und manchmal auch der Mut), die Unternehmenskultur zu verändern. Menschen in den Personalabteilungen berichten mir mitunter, dass sie mit der Zeit müde werden, gegen die Windmühlen aus Nr. 1 zu kämpfen.
- Der unbedingte Glaube an den „Cultural Fit“. Um zu bewerten, ob ein Mensch gut in ein Team oder ins Unternehmen passt, wird gerne der „Cultural Fit“ (die Passung der Kandidat*in z.B. zu den Unternehmenswerten) beschworen. Aber wie ermittelt man in deutschen Unternehmen diesen „Cultural Fit“? Das am meisten genannte Instrument dafür ist das Interview – und die eigene Menschenkenntnis. Was mich zum nächsten Punkt führt:
- Die Überzeugung, dass man selbst keine Vorurteile hat. Ich? Vorurteile? Ich bin ein großer Fan von Diversität, ich liebe es, mit Menschen aus vielfältigen Hintergründen zu arbeiten und Zeit zu verbringen. Ich bin überzeugt, dass es egal ist, welchem Geschlecht man angehört, um Leistung zu bringen. Und trotzdem habe auch ich Bias! Zum Beispiel dachte ich, als meine hübsche Nachbarin sagte „ich arbeite bei einer großen Wirtschaftsprüfung“, im ersten Moment, sie sei Teamassistentin. Ich lag total falsch. Sie ist Wirtschaftsprüferin und Steuerberaterin. Und wäre sie ein Mann, hätte sie das vermutlich auch genau so gesagt. Wie konnte ich nur! Auch ich bin durch Stereotype geprägt. Auch ich bin ein Mensch, und ich habe ein Gehirn, das sich seit Millionen Jahren so entwickelt hat, dass ich innerhalb von Millisekunden entscheiden kann, ob ich weglaufen oder bleiben, vertrauen oder misstrauen soll. Das Einzige was wir tun können, ist, uns dessen bewusst zu werden. Und unserem Gehirn die Chance zu geben, nach dem Instinkt in die rationale Analyse zu gehen.
- Das Fehlen einer einfachen, technischen Lösung – ich habe lange keine Anbieter gefunden, die die anonyme Bewerbung unterstützen – in Deutschland vollkommene Fehlanzeige. Das DSGVO macht es auch nicht gerade leichter – denn ich muss die Genehmigung der Verarbeitung der persönlichen Daten einholen, und das namentlich von der Person, um die es geht. Ich habe Anbieter*innen von Recruiting-Software gefragt: warum bietet Ihr so etwas nicht an? Die Antwort: Es wird durch die Unternehmen nur angenommen, wenn man es jederzeit wieder abschalten kann. Was ich außerdem gefunden habe: KI, die die menschlichen Unzulänglichkeiten ausbügeln soll, und die Personalentscheidung übernimmt. Ich bin damit nicht alleine, den Gedanken gruselig zu finden, dass eine KI entscheidet, wer ein Interview erhält und wer nicht. Vor allem, weil KI ja bekanntlich oft alles andere als gerecht entscheidet.
Ich möchte, dass sich etwas ändert. Die Welt braucht eine Lösung, und sie braucht einen Schubs - deshalb gründe ich anonyfy.
Ich möchte, dass Unternehmen nicht länger die Chance vergeben, die besten Kandidat*innen zu finden, um die besten Teams zusammenzustellen – und somit nicht so innovativ und erfolgreich sind, wie sie sein könnten.
Ich möchte, dass alle Menschen die gleiche, faire Chance erhalten.
Es ist Zeit!
Hier können Sie weiterlesen, wie anonyfy anonymes Recruiting ermöglicht.
Max Mustermann
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